Das Versagen der Osteuropaforschung
Spätestens seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine ist klar: Die Osteuropawissenschaft ist gescheitert. Und das nicht zum ersten Mal. Ein Kommentar von Prof. Gerhard Simon.
Der 24. Februar 2022 war nicht nur ein schwarzer Tag für die Ukraine. Er war und ist auch ein schwarzer Tag für die Osteuropawissenschaft. Zum zweiten Mal in einer Generation zeigt sich, dass sie nichts taugt, dass sie den elementaren Anforderungen, die an Forschung zu stellen sind, nicht gerecht wird. Zum ersten Mal versagte unsere Wissenschaft zwischen 1989 und 1991, als sie vom Zusammenbruch des Kommunismus im Osten Europas und vom Ende der Sowjetunion vollständig überrascht wurde.
Es geht nicht darum, dass wir diese Ereignisse hätten voraussehen müssen (obwohl das natürlich wünschenswert gewesen wäre). Fakt ist vielmehr, dass wir das genaue Gegenteil prognostiziert haben. Die Osteuropawissenschaft hat in schöner Eintracht mit der Politik und der öffentlichen Meinung den Fortbestand der bipolaren Welt und insbesondere der Sowjetunion für selbstverständlich gehalten. Ja, mehr noch: sie hat das für wünschenswert erachtet und mit Frieden und Stabilität identifiziert.
Der Skandal besteht darin, dass wir alternative Fragen und Szenarien gar nicht zugelassen haben. Eine Wissenschaft, die nichts anderes vermag, als die Gegenwart in die Zukunft fortzuschreiben, verdient diesen Namen nicht. Insofern war es konsequent und nur allzu verständlich, dass die Geldgeber unserer Wissenschaft nach 1991 den Geldhahn zugedreht haben.
Wie aber lässt sich die Malaise erklären?
Antikommunismus als Fortschritt
Verhängnisvoll war das Ausblenden von alternativen Fragestellungen durch Denktabus, die seit den 1960er-Jahren zur Engführung unserer Wissenschaft wesentlich beigetragen haben. Seit dieser Zeit gehörte es zur Grundüberzeugung, dass Antikommunismus verwerflich ist, den Kalten Krieg perpetuiert und die Zukunft blockiert. Die linke Meinungsführerschaft dominierte die Osteuropawissenschaft ebenso wie den öffentlichen Diskurs und verhinderte eine Politikberatung, die sich dem Mainstream hätte entgegenstellen können.
Politikberatung bewegte sich ebenso wie die Politik in den ausgetretenen Bahnen der Fortschreibung der Gegenwart in die Zukunft. Eine Grundvoraussetzung für effektive Politikberatung ging verloren: Politikberatung, die diesen Namen verdient, muss in Distanz zur Politik, ja im Gegensatz zur Politik stehen. Sie darf nicht von ihr finanziert werden.
Und dann kehrte in den 1980er-Jahren – von uns völlig unerwartet – der Antikommunismus als Mainstream in den (ehemals) kommunistischen Staaten Osteuropas – einschließlich von Russland (jedenfalls für einige Jahre) – zurück. Es zeigte sich, dass es gute Gründe dafür gab, Antikommunist zu sein. Dass Antikommunismus keineswegs rückwärtsgewandt war, sondern für Fortschritt stand.
Mehr als Russland sehen
Nach 1991 hat es die Osteuropawissenschaft nicht einmal geschafft, die seit hundert Jahren bestehende Priorisierung Russlands zu überwinden und beispielsweise der Ukraine, aber auch anderen vernachlässigten Regionen Osteuropas den ihnen zustehenden Platz einzuräumen.
Nachdem die Osteuropaforschung den Untergang des Kommunismus in Osteuropa verpasst hat, ist sie jetzt, 30 Jahre später, mit der zweiten Katastrophe konfrontiert: Sie hat das postkommunistische Russland vollständig falsch eingeschätzt. Nicht die leiseste Warnung war von der Osteuropaforschung zu vernehmen, dass Russland sich anschickte, aus der Gemeinschaft der zivilisierten Welt auszutreten. Obwohl – so wird jedenfalls im Nachhinein deutlich – zahlreiche Indizien vorhanden waren.
Wie lässt sich das erklären?
Das postkommunistische Russland wurde als ganz „normales“ Land wahrgenommen. Wo es sich aber unterscheidet, kann und muss ihm mit „Modernisierungspartnerschaften“ unter die Arme gegriffen werden, um es möglichst bald an westliche Standards heranzuführen. Statt die Unterschiede zu betonen und die historischen Pfadabhängigkeiten hervorzuheben, hat unsere Wissenschaft dazu beigetragen, das Allgemeine, das Verbindende, das „Moderne“ ins Rampenlicht zu rücken.
Eine alternative Weltmacht
Mehr noch, sie hat die Unfähigkeit geschult, Russland so wahrzunehmen, wie es sich selber sieht. Denn Russland hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer stärker und immer hörbarer betont: Wir sind anders, wir wollen anders sein, eure Zukunft ist nicht unsere Zukunft. Vor allem hat sich der Westen geweigert zu verstehen, dass Russland sich für eine Weltmacht hält und als überlegen wahrnimmt. Weil dies in westlichen Augen Schnee aus früheren Jahrhunderte ist, und dem objektiven, beispielsweise ökonomischen Befund widerspricht, waren wir taub für die Realität der russischen Selbstwahrnehmung.
Soweit von der Forschung Kritik an Russland geübt wurde, richtete sie sich gegen zunehmende Repressionen der Zivilgesellschaft, gegen Einschränkungen der Meinungsfreiheit, Zensur des Internets und Ähnliches. Tatsächlich sind dies Nebenkriegsschauplätze, die von der Hauptsache ablenken: Russland hat seit Längerem geplant, aus der zivilisierten Welt auszutreten und Krieg gegen jene zu führen, die sich dem Griff nach der Weltmacht widersetzen.
Genau diesen Sachverhalt hat die Osteuropaforschung nicht wahrgenommen, ja verschleiert durch die Konzentration auf Zweitrangiges. Heute ist klar, dass Russland seit 20 Jahren auf dem Marsch in den Krieg gegen die Ukraine ist. Natürlich kann man das mit den Augen nach dem 24. Februar besser sehen als zuvor. Aber eine umsichtige Forschung hätte zumindest diesen Sachverhalt als eine Möglichkeit bedenken müssen. Aber sie war viel zu stark von der Politik und der öffentlichen Meinung abhängig.
Westliche Kuschelmaßnahmen
Statt den von Russland angebotenen Konfrontationskurs anzunehmen und zu erwidern, hat die Politik mit Kuschelmaßnahmen reagiert; Handel, Wandel und Diplomatie gefördert – in der Überzeugung, Russland werde sich schlussendlich uns anpassen. Erst der 24. Februar hat unwiderleglich bewiesen, dass Russland kein moderner Staat ist, Völkerrecht für Geschwätz hält, Gewalt und Krieg aber für ganz normale Instrumente der Politik. Die jetzt im Westen oft zu hörende Reaktion, Russland werde schlussendlich mit dieser Politik scheitern, ist nicht nur zynisch gegenüber dem ukrainischen Volk. Diese Position ist bislang auch unbewiesen.
Im Gegenteil gilt bislang, dass der Westen dem anhaltenden Gemetzel in der Ukraine mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen zuschaut und keine Instrumente findet, dem Krieg Einhalt zu gebieten. Besonders drastisch ist das in Deutschland zu besichtigen, wo der fortdauernde Betrieb der chemischen Industrie klare Priorität genießt gegenüber einem Boykott von russischem Gas.
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